Vergangene Medizin in Innsbruck
Das 19. Jahrhundert war ein ereignisreiches Jahrhundert, wenn wir es vom historischen und technischen Standpunkt aus betrachten. Die „Industrielle Revolution“ legte ein stabiles Fundament für den wissenschaftlichen Fortschritt und eine prosperierende Wirtschaft. Das ermöglichte einerseits Fortschritte im Gebiet der Medizin, Pharmazie und Biologie, auf der anderen Seite war die Epoche der Industrialisierung von Pauperismus und einer immer brutaleren und zerstörerischen Kriegsführung gezeichnet.
Franz Innerhofer (1847-1918) war ein Arzt, der sich „Dr.med. et Chirurg“ nennen durfte. Er wurde 1872 in Innsbruck zum Doktor der Medizin promoviert und war später Direktor der Landesgebäranstalt. Innerhofer praktizierte in Innsbruck, war aber auch Mäzen des Meraner Stadtmuseums. Er nannte eine umfangreiche Bibliothek sein eigen und interessierte sich im Speziellen für Peter Mitterhofer (1822-1893) und seine Schreibmaschinen. [1]
Das sogenannte „Zweite Wiener Professorenkollegium“ wirkte in Wien um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist im Innsbrucker Literaturbestand beispielsweise durch den Anatomen Joseph Hyrtl (1810-1894), den Pathologen Karl Rokitansky (1853-1878), den Dermatologen Ferdinand Hebra (1816-1880) oder den Internisten Joseph Skoda (1805-1881) stark vertreten. Rokitansky machte sich jedoch auch auf einem anderen, nämlich diplomatischem Gebiet, für Innsbruck verdient. Er setzte sich vehement und mit Nachdruck gegen die Ministerialbeamten in Wien durch, als es 1869 um die Wiedererrichtung der Medizinischen Fakultät mit einem Promotionsrecht in Innsbruck ging. Denn die Beamten in Wien fanden es nicht für „oportun“ eine derartige Bildungseinrichtung in Tirol zu haben. Es sei denn auch wesentlich billiger, in Innsbruck Wundärzte an Stelle von den teuren „Doctores der Medizin“ auszubilden.
Ein hervorragender Wissenschafter an der Innsbrucker Universität war zum Beispiel der Chirurg Carl von Nicoladoni. 1847 in Wien geboren, promovierte er 1871 hier und habilitierte fünf Jahre darauf. Weitere fünf Jahre später wurde er bereits als Vorstand an die Chirurgie nach Innsbruck berufen. Dort wirkte er 14 Jahre lang, um dann 1895 nach Graz berufen zu werden. Er hatte zuvor noch den Neubau der chirurgischen Klinik in Innsbruck durchgesetzt, die 1888 – vor mehr als 135 Jahren – eröffnet wurde. Nicoladoni erwarb sich große Verdienste um die Skoliosebehandlung und führte zu einem sehr frühen Zeitpunkt erste Sehnentransplantationen durch. Eine seiner vielen Operationsmethoden im Rahmen einer Wiederherstellungschirurgie bestand darin, den Daumen durch Überpflanzung eines mit einem Knochenspan gestielten Brustlappens oder einer Zehe, zu ersetzen.
In Innsbruck nahm bald der Unterricht am Krankenbett einen breiten Raum ein und die Mediziner interessierten sich vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für so manche „revolutionäre“ Idee aus dem Ausland. Dies schlägt sich auch in der Fach-Literatur in Innsbruck nieder, wenn nun in den Texten Milde gegenüber den „Irrenden“ gefordert wird. Die bisherige Behandlungsweise wird nun schlichtweg als „Barbarei“ bezeichnet. So ist in Texten zu lesen, „[…] wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben [2], ausgestorbene Gefängnisse neben den Schlupflöchern der Eulen in die Klüfte zwischen den Stadttoren, oder in feuchte Kellergeschoße der Zuchthäuser ein.“ [3]
In diese Verließe würde sich niemals der Blick eines Menschen verirren und deshalb habe niemand Mitleid mit den im Unrat verfaulenden und angeketteten Armen. „Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf den Knochen abgerieben und ihre hohlen und bleichen Gesichter harren des nahen Grabes, das ihren Jammer zudeckt.“ [4] Kritik wird auch an der menschenunwürdigen und schaustellerischen Vorführung der Irren geübt. Die Irren würden zudem ohne System behandelt werden, denn „Fallsüchtige, Blödsinnige, Schwätzer und düstre Misanthropen schwimmen in der schönsten Verwirrung durcheinander . Die Erhaltung der Ruhe und Ordnung beruht auf terroristischen Prinzipien. Peitschen, Ketten und Gefängnisse sind an der Tagesordnung. Die Offizianten sind meist gefühllose, pflichtvergessene, oder barbarische Menschen“. [5]
Philippe Pinel (1745-1826), ein französischer Psychiater am "Hopital Bicetre", einem Spital, Irrenhaus und Gefängnis in Paris, widmete sich der Behandlung von Geisteskranken und den sogenannten „Irren“. Er vertrat die Meinung, dass mit der bis dahin praktizierten Gewalt- und Schockbehandlung nichts zu erreichen wäre und propagierte mit - „no restraint!“ – die zwangsfreie Behandlung der Kranken. In Österreich hatte in den Gemeinden in der Regel der Gemeindearzt die "Irren" in medizinischen Journalbüchern einzutragen. Wurde ein Geisteskranker als gemeingefährlich eingestuft, dann konnte er in eine Anstalt oder in ein Irrenlokal überstellt werden. In diesem Fall hatten die behandelnden ÄrztInnen oder die Gemeindeärzte eine Krankengeschichte über die betroffene Person zu verfassen und die Bezirkshauptmannschaft musste das Polizeikommissariat verständigen, das sodann die Einlieferung veranlasste. Es war Aufgabe der Amtsärzte und der politischen Behörden, ihren Verpflichtungen in Bezug auf das „Irrenwesen“ nachzukommen. Der heute als diskriminierend erachtete Begriff "Irrer" entstammt dem Mittelalter und bezeichnete einst eine vom Weg abgekommene und in jeder Hinsicht unsichere Person.
Es gab bis zum Ende des Jahrhunderts neben den akademischen Ärzten:innen die zunftmäßig organsierten Wundärzte. Erstere behandelten rein innerlich mit Medikamenten. Letztere behandelten seit dem Mittelalter äußerlich und vollzogen gewandt die chirurgischen Eingriffe mit dem Messer. Sie führten ebenso die Phlebotomie, auch Aderlass genannt, durch. In der Regel mit Präzision und Eleganz, gute anatomische Kenntnisse vorausgesetzt.
Die Wundärzte, oder im militärischen Bereich auch „Feldscher(er)“ genannt, wurden durch die Professionalisierung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von den akademisch gebildeten Ärzten:innen komplett verdrängt.
In der Ausstellung teilen sich bemerkenswerte Bücher mit ebensolchen Objekten den Platz. So findet das Werk des Begründers des österreichischen Sanitätswesens Jaromir Mundy neben einem Modell eines frühen Notarztwagens Platz. Im 19. Jahrhundert hält die Sozial- und Arbeitsmedizin Einzug in die medizinische Forschung. Auf Grund der Industrialisierung entstehen neue Verletzungsbilder und Erkrankungen. Die Streichhölzer stellten eine besondere Gefahrenquelle dar. Sie waren verantwortlich für die „Berufskrankheit Nr. 1109“, die Phosphornekrose. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Streichhölzer massenhaft im Produktionsablauf in weißen Phosphor getunkt. Damit war zwar verlässlich eine Reibsicherheit für den Kunden gegeben, doch überall da, wo sich der Phosphordunst in der Fabrik anlegte, leuchteten die Wände und Einrichtungsgegenstände im Dunkeln auf. Dies ging sogar soweit, dass die Arbeiter:innen derartige Mengen an Phosphordämpfen einatmeten, dass ihr Atem in der Dunkelheit aufleuchtete. Die Dämpfe drangen in die kariöse Zähne ein. Die Folge davon waren heftige Zahnschmerzen, Entzündungen des Zahnfleisches und letztendlich die entzündliche Auflösung des Kiefers. Dabei wurde der abgestorbene Knochen unter jauchigem Eiter aus der Mundhöhle getrieben. Auch wurden die weißen Zündholzköpfchen bisweilen gezielt zur Vergiftung von unliebsamen Personen herangezogen. Erst der rote und ungiftige Phosphor sorgte etwa 10 Jahre später für eine Besserung der Gesamtsituation. Erst als die Zündfläche, die den Streichholzkopf umhüllte, in Form einer Reibfläche auf den Zündholzschachtelrand verlegt wurde, entstanden die ersten Sicherheitszündhölzer, die eine ungewollte Explosion in der Zündholzschachtel verhinderten. Die Gesundheit spielte in diesem Jahrhundert eine sozialpolitisch wichtige Rolle und die Hygiene wurde zur Wissenschaft erhoben.
Seit dem 12. Jahrhundert sind spezielle Bücher über die korrekte Zubereitung von standardisierten Arzneien nachweisbar. Der Staufer-Kaiser Friedrich II. (1194-1250) regelte die Befugnisse von Apothekern und Ärzten. Im gesamten 19. Jahrhundert taten sich zahlreiche Apotheker in Wissenschaft und Forschung hervor. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts macht sich Friedrich Wilhelm Sertürner (1783-1841) um die Isolierung des Morphiums, einem Hauptwirkstoff des Opiums, verdient. Er konnte mit seinen Erkenntnissen die Schmerztherapie verfeinern. Arzt und Apotheker ergänzten sich stets bei der Behandlung von Kranken und Verletzten, wenn auch noch zahlreiche Ärzte eine Hausapotheke führten und die Rezeptierung beherrschten . Ein Kuriosa ist der Apotheker und Oberstleutnant John Pemberton (1831-1888). Er diente im konföderierten Heer während des amerikanischen Bürgerkriegs. Pemberton erfand 1887 die Coca-Cola-Rezeptur, als er im Kokain eine Ersatzdroge für das Morphin suchte. Der Beginn des Coca-Cola-getränks war ein Kokain-Wein. Er wurde bei Kehlkopfkrebs zur Linderung verschrieben, half gegen Depressionen und galt allgemein bei Künstlern und Wissenschaftern als Bewusstsein erweiterndes Mittel.
Im Pharmazie-Museum in Brixen gibt es zahlreiche weitere Objekte zur Geschichte der Pharmazie zu entdecken.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Innerhofer_(Mediziner)
[2] Koven oder Koben ist ein alter deutscher Name einer Stallung für Schweine und Schafe
[3] Johann Christian Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttung, Halle 1803, S. 14.15.
[4] Ebenda.
[5] Ebenda.