Narziß Lechner

„Ein langer Leichenzug bewegte sich gestern durch die obere Leopold- und Haymonstraße zum Wiltener Friedhof. Schon die außerordentlich große Zahl der männlichen Teilnehmer verriet, daß es galt, einem allgemein geachteten und beliebten Manns die letzte Ehre zu erweisen. Und in der Tat, von Narziß L e c h n e r, der gestern unter so großer Teilnahme zu Grabe geleitet wurde, kann man mit dem Dichter sagen: ‚Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem!‘ Der Verstrorbene hat namentlich durch seine organisatorische Tätigkeit in selbstloser, aufopferungsvoller Weise gewirkt. Durch Jahre hindurch war er in der Vorkriegszeit der geistige Führer der Innsbrucker Beamtenschaft. Was Narziß Lechner für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Beamten und Angestellten, namentlich auf genossenschaftlichem Gebiete (Beamten- Konsum- und Wohnungsbaugenossenschaft) in zähester Ausdauer gearbeitet und geleistet, darf geradezu als vorbildlich genannt werden. Mit rednerischer Gewandtheit verband er auch eine seltene Belesenheit und eine höchst beachtenswerte schriftstellerische Begabung. Im Interesse der Allgemeinheit war ihm kein Opfer zu groß und oft hat er nach des Tages Last noch halbe und ganze Nächte für Vereine uud Zeitschriften geschrieben. Im Kriege war er als tüchtiger, leutseliger Standschützenhauptmann bei den Soldaten sehr beliebt. Beim Zusammenbruch geriet er in italienische Gefangenschaft und kam nach Sizilien; dort holte er sich auch den Keim zu seinem langen, schweren Leiden. Nach der Rückkehr war er als Direktionssekretär der Verlagsanstalt Tyrolia tätig und bewies auch in dieser Stellung neben eisernem Arbeitswillen hervorragendes Organisationstalent, bis vor Jahresfrist eine tückische Krankheit den Unermüdlichen, erst 49jährigen zu qualvoller Untätigkeit zwang. Nun hat ihn ein sanfter Tod von jahrelangem Leiden erlöst, freilich allzu früh für die Seinen, die in ihm den musterhaften Gatten und Vater verlieren. Sein Andenken bleibt bei allen, die ihn kannten, in Ehren.“

 

Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 22. September 1923, Seite 8